Das Dorf Tschubkowitschi liegt im Süden der Region Brjansk, einer der Problemregionen von Zentralrussland. Hier befindet sich seit vierhundert Jahren die wundertätige Tschubkower Ikone der Mutter Gottes. Jedes Jahr, am 10.August, dem Tag der Feier der Ikone, kommen tausende Pilger zur restaurierten und gut eingerichteten Kirche um sie zu sehen. In diesen Tagen zählt das Dorf zehnmal so viele Einwohner, wie sonst.
An diesem Kontrast sieht man besonders gut, welch wichtige Rolle die Kirche im Leben des modernen Russland spielt.
Text: Alexej Sokolow
Fotos: Wladimir Eschtokin
Der Weg nach Tschubkowitschi erinnert vor dem Morgengrauen an einen Weg in ein Paralleluniversum.
Ein kleiner, aber belebter Bahnhof, dann die schnelle Verflechtung seltener Straßen und schließlich taucht der Wagen hinein in die Dunkelheit. Rundherum nur Wald und Nebel, kein einziges Licht, die Scheinwerfer schneiden die vollkommene Dunkelheit, und es scheint, als gebe es in dieser Gegend zwischen den Städten und Dörfern absolut nichts- nur absolute Leere. Vakuum.
Hin und wieder tauchen wie kleine Inseln Autos, Tankstellen und ein Polizeipunkt aus dem Dunkel auf. Bei der Zufahrt zum Dorf geht die Straße in einen Feldweg über, der Wagen wackelt und vorne erscheinen zwei leuchtende Punkte. Im ersten Haus brennt Licht.
Und irgendwie seltsam, wie aus einer anderen Wirklichkeit, Britney Spears im Radio singt.
Bei Sonnenaufgang werden die Umrisse der Umgebung sichtbar. Die Swjato-Anninskij Kirche erhebt sich, so wie es sich gehört, über dem Dorf. In der Mitte von Tschubkowitschi liegend, ist sie sogar optisch als das Zentrum des Dorfes. Die Kirche ist hier nie geschlossen worden. Nur einmal in den 30er Jahren wollte man der „Pflanzstätte des Obskurantismus“ ein Ende machen. Zu dieser Zeit hatte man bereits drei Priester aus dem Nachbarsdorf erschossen. In Tschubkowitschi wusste man davon nicht, aber um kein Risiko einzugehen, versteckte man den Abt der Kirche Pater Pawel vor der NKWD (Vorgänger des KGB). Die Agenten des NKWD dachten, er wäre geflohen, er jedoch befand sich nicht nur im Dorf, sondern hielt sogar Gottesdienste in den Häusern der Gläubigen. Doch niemand hatte ihn gefunden.
Nachdem der Priester Igor Owtschinnikow Abt geworden war, beschloss er alle, die die Kirche während der sowjetischen Jahre retteten, zu verewigen. Seither schmücken Gedenktafeln die Häuser im Dorf und die Kapelle, die gebaut worden ist über dem Grab der Gutsbesitzerin Anna Fedorenkowa. Diese hatte einst ihr gesamtes Vermögen zur Restauration der Kirche gespendet.
Im Jahr 1986 war die Tschernobyl- Katastrophe. Ein großer Teil der giftigen Niederschläge traf die Region Brjansk und sofort hatte man mit dem Umsiedeln der Einwohner begonnen. Einige Dörfer wurden vollständig evakuiert, in manchen Dörfern gab man der Bevölkerung die Möglichkeit mit staatlicher Unterstützung umzuziehen. Doch es leben weiterhin dort und dort Menschen. Wenn man die Straße entlang fährt, wechseln sich „lebende“ und „tote“ Dörfer ab. Unterscheiden kann man sie durch den Grad der Verödung. Die, die nicht evakuiert wurden, sehen munterer aus – hier gibt es nicht so viele kaputte Dächer und Häuser ohne Türen und Fenster.
In einem der verlassenen Dörfer lebt direkt bei der Straße noch eine alte Frau. Viele kennen sie, können sich aber nicht so recht an ihren Namen erinnern. Man musste ein ganzes Konzil in Tschubkowitschi versammeln. Und alle besprachen, wo das Haus liegt, verschiedene Namen, Geschichten aus der Vergangenheit…
Endlich erinnerte sich jemand – ihr Name ist Jewdokija.
Der Hof des Doms und der Hof der Schule liegen nebeneinander. Die Schule – das sind zwei einstöckige Gebäude auf beiden Seiten der Straße und eine Kantine. Die Klassen sind klein, zu je vier Schülern, so wie auch in anderen Dorfschulen. In diesem Jahr gibt es sogar nur einen Erstklässler, im nächsten Jahr wird es dafür ganze acht geben, was für Dörfer sehr viel ist. Im Durchschnitt fangen fünf Kinder mit der Schule an.
Auf dem Dach eines Gebäudes befindet sich eine Satellitenschüssel. Vor kurzem bekam die Schule einen Internetzugang. Das war das Resultat eines staatlichen Programms, die Renovierung des Sportsaales unterstützte Pater Igor.
Trotz des schwierigen Verhältnisses der ansässigen Bevölkerung zum russischen orthodoxen Glauben, ist Pater Igor eine unangezweifelte Autorität. Das hat unter anderem damit zu tun, dass er, während er sich mit dem Aufbau von Domen beschäftigt, auch das Leben rundherum besser einrichtet. Man wollte ihn sogar zum Vorsitzenden vom Kolchos (Kollektivwirtschaft) ernennen, doch das hat nicht funktioniert. Denn das Wichtigste für ihn ist Gott zu dienen. Außerdem gibt es auch bei den kirchlichen Angelegenheiten genug zu tun: der Abt belebt nicht nur seine Kirche wieder, sondern die ganze Gegend.
„Ich würde nicht sagen, dass dieses Durcheinander mit dem Haushalt keine Zeit übrig lässt für anderes“, sagt er. „Das Problem darin, dass der ständige Stress und die Konflikte, ohne die ein großer Haushalt nicht leben kann, vom wirklich Wichtigen abbringen. Gut, dass ich einen Buchhalter habe! Wenn ich mich auch noch die ganze Zeit selbst mit der Steuerbehörde herumschlagen müsste, dann hätte ich nicht nur keine geistigen, sondern auch keine physischen Kräfte mehr für die Liturgie… Ein Priester muss heutzutage viel arbeiten, sonst kann er nicht überleben. Und deswegen muss man sich außer dem Dom auch um den Gemüsegarten kümmern und um die Landwirtschaft…
Wenn man diese Gegend ansieht, erschrickt man darüber, wie viel sie doch ertragen musste. Warum ist es passiert, dass dieses einst mächtige Fürstentum, die Wiege der russischen Zivilisation, alle Leiden des zwanzigsten Jahrhunderts ertragen musste?
Die Menschen litten unter Hunger und unter der Revolution, unter Krieg und den Auswirkungen der Tschernobyl – Katastrophe. Und jetzt haben sie keine Kraft mehr, um etwas zu machen.
Und dennoch, als im Dorf Solowa endlich eine Kirche eröffnet wurde, war sie beim ersten Gottesdienst seit 90 Jahren so überfüllt, dass man kaum durchkam. Im Dorf gibt es noch Kräfte, es will leben, und begreifend leben, es muss nur etwas finden, an dem es sich anhalten kann. Doch außer der Kirche hat es nichts mehr.
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Evgeny Kashirin´s Werke. Evgeny Kashirin war nicht einfach nur ein Fotograf, er war ein wahrer Chronist seiner Stadt. Fast hinter jeder seiner Aufnahmen steckt eine Geschichte, und fast jede seiner Geschichten konnte er mit einem Foto illustrieren. Selbstbildnis Text: Alexei Sokolov. Er starb am 29. Juni 2007. Er war nicht nur ein Fotograf, sondern auch Historiker, Heimatforscher, Ehrenbürger von Rjazan und einfach einer der bedeutendsten Menschen dieser Stadt. Ich hatte das Glück ihn ein paar Monate vor seinem Tod zu treffen. Es war später Abend, ich kam ins „Haus der Pioniere“ der Stadt Rjazan, wo der Künstler mit seinen Schülern arbeitete. „Ich lehre junge Menschen und lerne selbst ein wenig von ihnen“, sagte er. An diesem Abend endete der Unterricht im Fotostudio spät, das „Haus der Pioniere“ sollte bald geschlossen werden, und wir hatten wenig Zeit. Aber ich wollte es doch wagen: „Könnten Sie mir vielleicht etwas über die Menschen auf Ihren Fotos erzählen?“ “In Ordnung“, sagte er. Kashirin schloss alle in seine Chronik mit ein: engste Freunde und zufällige Fahrgäste im Bus, Wohnungseinrichtungen und Szenen aus dem Straßenleben, Prominente und ganz einfache Bürger. — “Hier ist eine Eskorte von Motorradfahrern vor dem Standesamt. Es war einige Zeit bei uns Mode Frischvermählte so zu begleiten“, erzählte er. Kashirin´s Fotos waren und bleiben nach wie vor echte Literatur. Es gibt Geschichten, Gedichte in Prosa und auch Romane. „Das sind die Brüder Telkov, im Dorf wurden sie Telki (dt. – junge Kühe)genannt. Das hier ist Lesha Telok, sehen Sie – ein Kriegsinvalide und der Ortsphilosoph. Einmal sprach er mich an: „Kashirin, kannst du mir ein Gefallen tun?“ „In Ordnung“, sagte ich. Wir gingen durch das ganze Dorf, an einer verfallenen Kirche vorbei, direkt zum Friedhof. Lesha führte mich zu den Gräbern und sagte: „Hier liegt meine Mutter, hier mein Vater. Dort mein älterer Bruder und hier ist mein Platz“. Dann holte er ein Glas und eine Flasche Wodka heraus und schenkte ein. „Nimm mich auf“, sagte er, „wie ich an meinem eigenen Grab den Leichenschmaus veranstalte“... Eine Aufnahme ist wie ein Roman. Eine Reihe von Aufnahmen ist wie ein ganzes Epos, wo sich das Leben einzelner Menschen mit dem eines ganzen Landes verflechtet, und aus einer einfachen Geschichte von alten Menschen aus dem Dorf erfährt man etwas über den Krieg, über die Revolution,.... über alles. Patriarch Alexij II Evgeny Kashirin, einer der Gründer des Rjazaner Vereins «Memorial», ließ alles, was mit dem Land geschah, nicht nur durch seine Bilder, sondern auch durch seine Seele laufen. Er fühlte mit dem Herzen dessen Verluste und Gewinne mit... Andere Farben, ein anderer Ort und ein anderes Umfeld. Die alten Frauen Klava und Frosja. Dorfgreisinnen, die das zwanzigste Jahrhundert mit all seinen Zusammenbrüchen und all seinem Leid erlebt haben. „Man musste mit ihnen richtig reden können. Wenn man sie gefragt hätte: „Wie hast du die Oktober - Revolution erlebt?“, hätte sie nichts gesagt, außer: „Was hast du gesagt? Ich weiß nicht!“. Also musste man nachfragen: „Was war denn da 1917?“, antwortete sie sofort: „Ein Massenmord!“. Und beginnt zu erzählen... In diesem Gespräch mit Kashirin vergaß ich auf die Zeit zu achten. Deswegen war es in aller Eile beendet, und einige Fotoalben blieben von mir ungerührt. Daher hatte ich das Gefühl, dass ich nur einen kleinen Teil der großen Welt berührt hatte, die Evgeny sorgfältig aufbewahrte. Die Welt, die er immer bereit war mit allen zu teilen. Nach seinem Abgang blieben nicht nur die Bilder. Er hat uns über zwanzig seiner Sendungen über die Geschichte und Kunst des Rjazaner Gebiets hinterlassen, es blieben seine Erzählungen und Erinnerungen. Einiges wurde schriftlich festgehalten, anderes blieb nur im Gedächtnis derjenigen, die das Glück hatten Evgeny kennen zu lernen. Und das Wichtigste ist - es blieb die Zeit. Die Epoche, die er in seiner Fotochronik aufbewahrt hat. Das, was er uns hinterlassen hat, als er in die Ewigkeit ging. Lesen Sie den ganzen Artikel auf der Website "Foma.ru"
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"Ungläubiger Thomas" Nr – 5 (49), Mai 2007.
Der Untergang der russischen Dörfer ist seit langem eine Alltäglichkeit. Wir sind daran gewöhnt, dass auf dem Land leblose schiefe Häuser mit den toten zugenagelten Fenstern den zerfahrenen Straßen entlang stehen. Und leere ruinierte Kirchen, irgendwann voll von Gläubigen, überraschen uns schon lange nicht mehr. «Das ist das Leben», - sagen wir dann gleichgültig. Das Schicksal von Twer´s Dorf Mlevo widerlegt diese Tatsache. Hierher kehren nach und nach die Menschen dank der Tatkraft des Pristers von Dorfkirche zurück.
Text: Andrew Bezlepkin.
Fotos des Autors.
Das alte Twer`s Dorf Mlevo ist fünf Kilometer von der Straße Bologoe-Udomlya entfernt. In den Ferien kommen die Sommergäste hierhin, und kontinuierlich wohnen dort nur ein paar Dutzend Menschen.
In der Mitte des XIX Jahrhunderts hatte die Gemeinde über zweihundert Häuser. Auf dem Fluss Msta liefen die Schiffszüge vorüber, die die Waren nach Nowgorod verfrachtet haben. Eine entscheidende Rolle in der Entstehung der Spaso-Georgievsky Kirche spielten die Kaufleute, die Schiffszüge mit den Waren auf Msta geführt haben und großzügig für kirchlichen Zwecke gespendet haben. Die riesige Kirche, die sechs Altäre in sich enthält, sieht man schon kilmeterweit vor Mlevo aus der Flussrichtung. Mit dem Bau des Gotteshauses wurde im Jahr 1823 begonnen und dauerte bis 1849.
Ich war in Mlevo vor vier Jahren. Ich kam im Juli für ein paar Wochen, um eine Reihe von Fotos zu machen, und seitdem kehre ich regelmäßig hierhin wieder, trotz Zeitmangel. Dies ist eins der wenigen Orte, das sich für immer in meinem Gedächtnis eingenistet hat.
Als ich die Kirche zum ersten Mal sah, hat mich ihre Größe überrascht, die völlig unerwartet für das Dorf ist, wo knapp drei Dutzend Häuser geblieben sind. Ich ging in das Gotteshaus nach dem Gottesdienst, stellte mich vor, fragte nach dem Priester, erzählte, dass ich einen Fotobericht über das Dorf schreibe und möchte gerne ein paar Aufnahmen in der Kirche machen. Zu meinem Erstaunen war Vater Wladimir damit sofort einverstanden. «Machen Sie es! Überall, wo Sie wollen».
Viele Priesters nehmen die Einsetzung hierhin als eine Verbannung wahr, - sagte Vater Wladimir Safronov, Pastor der Spaso-Georgievsky Kirche im Dorf Mlevo. - Sie sehen es selbst - die Kirche ist riesig und wunderschön, aber alles muss neu wiederaufgebaut werden. Ohne Gemeindemitgliedern ist es nicht möglich. Aber hier wohnen sehr wenige Leute, nur alte Mütterchen sind noch geblieben».
Vater Vladimir hat fast jede Minute was zu tun: mal fährt er nach Udomlyu , mal nach Twer, mal nach St. Petersburg. Andernfalls hätte die Kirche keine Zukunft: «Wer würde hier bleiben? Wenn ich weg gehen würde, wird Eparchie keinen mehr anstellen, die Kirche wird geschlossen, zerstört, ausgeraubt und missbraucht ... Sie wurde ohnehin sehr oft ausgeraubt. Gott sei Dank, nicht bei mir. In den Stadt-Kirchen ist es einfacher - sie haben mehr Gemeindemitglieder, die Baumaterialien kann man leichter da beschaffen. Und hier ... Für sich selbst bleibt keinerZeit - die Kirche muss gerettet werden. Ich kann warten, und Fresken und Ikonen können es nicht ».
Noch vor drei Jahren waren nur wenige Gemeindemitglieder da, sogar in einem Sonntagsgottesdienst - meist Ortsbevölkerung, Sommergäste und ein paar Leute aus Udomlya. Ehemaliger Priester war sehr streng: hat einer keinen Kreuz - läßt er ihn in die Kirche nicht rein. So ist keiner hingegangen. An Vater Wladimir hat man sich auch lange gewöhnt. Manchmal stand er mit seiner Frau auf den Stuffen der Kirche und lud die Leute ein, und hörte zurück: «Wie? Dürfen wir?»
Für die Dachrenovierung der Kirche wurde fünfzigtausend Dollar ausgegeben. Vater Vladimir lächelte: «Es spricht sich herum, dass Priester reich ist! Er hat die Renovierung angefangen. Hätten die Leute es gewusst, dass ich dieses Geld niemals gesehen habe. Zwölf Tonnen Stahl, Transport und Arbeitnehmer-Lohn zahlte derjeniger, der dieses Geld auch hat und dem es nicht viel zu schade war es für die Renovierung dieser Kirche abzugeben».
Der sehnlichste Traum von Vater Vladimir und seiner Frau Alevtina ist Wiederbelebung des Dorfes. Jedes Jahr gehen zwei bis drei Menschen und ein Haus davon. Wenn es so weiter geht , bleibt von Mlevo nach zehn Jahren nichts mehr übrig.
«Manchmal entbrennen ich und meine Frau in diesem Traum, und dann geht der Glaube, dass das Dorf wiederbeleben wird, wieder verloren. Es gibt Leute, die es möchten hierher zu kommen, den es hier gefällt. Aber nicht jeder kann es sich leisten ein Haus zu kaufen. Gelingt es mir und meiner Frau hier alles in Gang zu bringen? Es hängt von uns ab. Und von denen, die uns helfen. Ohne sie können wir kaum etwas schaffen. Nach und nach suchen wir Leute, Glaube und Geisteskraft. Das ist der Kern, der uns stärkt».
Das zweite Teil der Geschichte über das Dorf Mlevo können Sie auf der Website "Foma.ru" - "Heilige Einfalt" lesen.
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