Samstag, 22. November 2008
REISE ZUM MITTELPUNKT DER ERDE

Das Dorf Tschubkowitschi liegt im Süden der Region Brjansk, einer der Problemregionen von Zentralrussland. Hier befindet sich seit vierhundert Jahren die wundertätige Tschubkower Ikone der Mutter Gottes. Jedes Jahr, am 10.August, dem Tag der Feier der Ikone, kommen tausende Pilger zur restaurierten und gut eingerichteten Kirche um sie zu sehen. In diesen Tagen zählt das Dorf zehnmal so viele Einwohner, wie sonst.

An diesem Kontrast sieht man besonders gut, welch wichtige Rolle die Kirche im Leben des modernen Russland spielt.

Text: Alexej Sokolow

Fotos: Wladimir Eschtokin

Der Weg nach Tschubkowitschi erinnert vor dem Morgengrauen an einen Weg in ein Paralleluniversum.

Ein kleiner, aber belebter Bahnhof, dann die schnelle Verflechtung seltener Straßen und schließlich taucht der Wagen hinein in die Dunkelheit. Rundherum nur Wald und Nebel, kein einziges Licht, die Scheinwerfer schneiden die vollkommene Dunkelheit, und es scheint, als gebe es in dieser Gegend zwischen den Städten und Dörfern absolut nichts- nur absolute Leere. Vakuum.

Hin und wieder tauchen wie kleine Inseln Autos, Tankstellen und ein Polizeipunkt aus dem Dunkel auf. Bei der Zufahrt zum Dorf geht die Straße in einen Feldweg über, der Wagen wackelt und vorne erscheinen zwei leuchtende Punkte. Im ersten Haus brennt Licht.

Und irgendwie seltsam, wie aus einer anderen Wirklichkeit, Britney Spears im Radio singt.

Bei Sonnenaufgang werden die Umrisse der Umgebung sichtbar. Die Swjato-Anninskij Kirche erhebt sich, so wie es sich gehört, über dem Dorf. In der Mitte von Tschubkowitschi  liegend, ist sie sogar optisch als das Zentrum des Dorfes. Die Kirche ist hier nie geschlossen worden. Nur einmal in den 30er Jahren wollte man der „Pflanzstätte des Obskurantismus“ ein Ende machen. Zu dieser Zeit hatte man bereits drei Priester aus dem Nachbarsdorf erschossen. In  Tschubkowitschi wusste man davon nicht, aber um kein Risiko einzugehen, versteckte man den Abt der Kirche Pater Pawel vor der NKWD (Vorgänger des KGB). Die Agenten des NKWD dachten, er wäre geflohen, er jedoch befand sich nicht nur im Dorf, sondern hielt sogar Gottesdienste in den Häusern der Gläubigen. Doch niemand hatte ihn gefunden.

Nachdem der Priester Igor Owtschinnikow Abt geworden war, beschloss er alle, die die Kirche während der sowjetischen Jahre retteten, zu verewigen. Seither schmücken Gedenktafeln die Häuser im Dorf und die Kapelle, die gebaut worden ist über dem Grab der Gutsbesitzerin Anna Fedorenkowa. Diese hatte einst ihr gesamtes Vermögen zur Restauration der Kirche gespendet.

Im Jahr 1986 war die Tschernobyl- Katastrophe. Ein großer Teil der giftigen Niederschläge traf die Region Brjansk und sofort hatte man mit dem Umsiedeln der Einwohner begonnen.

Einige Dörfer wurden vollständig evakuiert, in manchen Dörfern gab man der Bevölkerung die Möglichkeit mit staatlicher Unterstützung umzuziehen. Doch es leben weiterhin dort und dort Menschen. Wenn man die Straße entlang fährt, wechseln sich „lebende“ und „tote“ Dörfer ab. Unterscheiden kann man sie durch den Grad der Verödung. Die, die nicht evakuiert wurden, sehen munterer aus – hier gibt es nicht so viele kaputte Dächer und Häuser ohne Türen und Fenster.

In einem der verlassenen Dörfer lebt direkt bei der Straße noch eine alte Frau. Viele kennen sie, können sich aber nicht so recht an ihren Namen erinnern. Man musste ein ganzes Konzil in Tschubkowitschi versammeln. Und alle besprachen, wo das Haus liegt, verschiedene Namen, Geschichten aus der Vergangenheit…

Endlich erinnerte sich jemand – ihr Name ist Jewdokija.

Der Hof des Doms und der Hof der Schule liegen nebeneinander. Die Schule – das sind zwei einstöckige Gebäude auf beiden Seiten der Straße und eine Kantine. Die Klassen sind klein, zu je vier Schülern, so wie auch in anderen Dorfschulen. In diesem Jahr gibt es sogar nur einen Erstklässler, im nächsten Jahr wird es dafür ganze acht geben, was für Dörfer sehr viel ist. Im Durchschnitt fangen fünf Kinder mit der Schule an.

Auf dem Dach eines Gebäudes befindet sich eine Satellitenschüssel. Vor kurzem bekam die Schule einen Internetzugang. Das war das Resultat eines staatlichen Programms, die Renovierung des Sportsaales unterstützte Pater Igor.

Trotz des schwierigen Verhältnisses der ansässigen Bevölkerung zum russischen orthodoxen Glauben, ist Pater Igor eine unangezweifelte Autorität. Das hat unter anderem damit zu tun, dass er, während er sich mit dem Aufbau von Domen beschäftigt, auch das Leben rundherum besser einrichtet. Man wollte ihn sogar zum Vorsitzenden vom Kolchos (Kollektivwirtschaft) ernennen, doch das hat nicht funktioniert. Denn das Wichtigste für ihn ist Gott zu dienen. Außerdem gibt es auch bei den kirchlichen Angelegenheiten genug zu tun: der Abt belebt nicht nur seine Kirche wieder, sondern die ganze Gegend.

„Ich würde nicht sagen, dass dieses Durcheinander mit dem Haushalt keine Zeit übrig lässt für anderes“, sagt er. „Das Problem darin, dass der ständige Stress und die Konflikte, ohne die ein großer Haushalt nicht leben kann, vom wirklich Wichtigen abbringen. Gut, dass ich einen Buchhalter habe! Wenn ich mich auch noch die ganze Zeit selbst mit der Steuerbehörde herumschlagen müsste, dann hätte ich nicht nur keine geistigen, sondern auch keine physischen Kräfte mehr für die Liturgie…

Ein Priester muss heutzutage viel arbeiten, sonst kann er nicht überleben. Und deswegen muss man sich außer dem Dom auch um den Gemüsegarten kümmern und um die Landwirtschaft…

Wenn man diese Gegend ansieht, erschrickt man darüber, wie viel sie doch ertragen musste. Warum ist es passiert, dass dieses einst mächtige Fürstentum, die Wiege der russischen Zivilisation, alle Leiden des zwanzigsten Jahrhunderts ertragen musste?

Die Menschen litten unter Hunger und unter der Revolution, unter Krieg und den Auswirkungen der Tschernobyl – Katastrophe. Und jetzt haben sie keine Kraft mehr, um etwas zu machen.

Und dennoch, als im Dorf Solowa endlich eine Kirche eröffnet wurde, war sie beim ersten Gottesdienst seit 90 Jahren so überfüllt, dass man kaum durchkam. Im Dorf gibt es noch Kräfte, es will leben, und begreifend leben, es muss nur etwas finden, an dem es sich anhalten kann. Doch außer der Kirche hat es nichts mehr.

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